Liebe Rosinensucher und Perlenfinder!
Die Welt wird immer verrückter. Oder waren Sie schon einmal in einem Restaurant, in dem man ganz normal in geselliger Runde am Tisch sitzt und nicht etwa ein Kellner die Bestellungen und Getränkewünsche entgegen nimmt, sondern der Gast, oder soll ich besser sagen, der hungrige User per iPad seine Speisen und Biere bestellt? Sie glauben mir nicht, dass es schon so weit gekommen ist? Ich konnte es auch nicht glauben und dachte ich hätte als Nicht-Besitzerin eines Smartphones und wehrhafte Gegnerin von sozialen Netzwerken schon wieder den Schuss nicht gehört. Aber der Reihe nach.
In meinem Karate-Dôjô feiern wir keine Weihnachtsfeier, sondern eine Jahresauftaktfeier. Die fand in diesem Jahr Anfang Januar statt. Unser Trainer hatte ein japanisches Restaurant in einem doch recht versteckten Winkel eines neuen Einkaufszentrums von Herdecke ausgesucht. Nach unseren Erlebnissen dort, fragen wir uns in der Rückschau, ob er wohl schon einmal da gewesen ist. Denn wir können ihn uns nicht bei einer elektronischen Bestellung mit einem Tablet vorstellen. Würde er das doch mit schnellen Fingern und eleganter Wischtechnik tun, so wären wir recht verdutzt. Wir werden es wahrscheinlich nie herausfinden, ob und wie er bestellen würde, denn unser Trainer konnte am Essen leider nicht teilnehmen, weil er plötzlich krank geworden war. Bitte, liebe Leser, merken Sie sich dieses nicht unwichtige Detail. Es wird im Verlaufe dieser Geschichte noch eine wichtige Rolle spielen.
Die Mehrzahl unserer 12-köpfigen Runde kannte das Lokal. Ich hatte die Räume etwas widerwillig betreten, weil ich nie freiwillig zu einem Asiaten in Deutschland gehe, da ich solche Essensstätten bisher nur mit Glutamat-Kopfschmerzen verlassen habe, und mich die für deutsche Zungen in ihren Aromen zurechtgestutzte asiatische Küche nie wirklich überzeugt hat. Auch das großstädterische Sushi nicht. Meine Abneigung stieg, als alle am Tisch plötzlich vom Buffet sprachen. Buffet könne man nur nehmen, wenn der gesamte Tisch es nähme, so eine der Regeln des Lokals. Und Buffet hieß hier auch nicht, dass man tief mit dem Löffel in silberne rechteckige Metallbehälter griff, sondern erst einmal bestand dieses Buffet nur virtuell. Auf dem iPad waren Fotos der einzelnen Speisen abgebildet. Erwähnte ich, dass ich es hasse, wenn an touristischen Einkehrmöglichkeiten die fotografierten Speisen draußen vor der Tür hängen? Warum macht man das? In Streifen gebratenes Hühnchenfleisch und eine Algensuppe kann man sich doch wohl vorstellen, oder? Also alle Buffet, das merkte ich schon. Sagte ich, dass ich Gruppenzwang auch nicht mag? Herrgott, ich kam mir in diesem Moment schrecklich spießig vor, da mein Weltbild schon so festgelegt und ich gedanklich gar nicht mehr elastisch war. Und das mit erst 41 Jahren. Wo sollte das noch hinführen?

Mit diesem iPad wird bestellt. Oben links ist das Kontingent zu sehen. Fünfzehn Speisen dürfen pro Runde bestellt werden.
Aber ich habe eben auch meine wohltuenden Vorlieben und meine Abneigungen, die ich mit manchmal faszinierter Abscheu kultiviere. Ein “All you can eat”-Buffet also. Das war ja klar. Kein Asiate ohne diesen Unsinn. Wer jemals den Film “Das Große Fressen” gesehen hat, der kann solche Völlerei nur ablehnen. Nebenbei bemerkt ist die “Völlerei” auch eine der sieben Todsünden. Aber welchen User von heute bringen solch antiquierte Gesellschaftsregeln schon in Gefahr?
Erwähnte ich, dass ich nichts schlimmer finde als “All you can eat”-Angebote? Das ist für mich der Inbegriff der Maßlosigkeit, das Barometer unserer nur noch konsumierenden Gesellschaft. Tiere werden in Massenhaltung gequält, damit unsere Regale voll von billigem Fleisch sind, die Süddeutsche Zeitung fragte einmal, wie sich ein Huhn wohl fühlen würde, wenn es als Ganzes für 1,99 Euro verkauft würde; – dafür die monatelange Quälerei? Für 1,99? Eine Kohlrabi kostet 49 Cent, Fleisch ist trotzdem billiger als Gemüse und macht den Menschen satter. Ich empfinde unsere Mitbürger oft als hirnlose Konsumenten, die gar nicht mehr merken, was für einen Müll sie in sich hineinstopfen. Fast Food, to go, Mc Drive, essen im Gehen und Stehen. Vor dem Rechner wird es verschlungen. Ungesehen, ungewürdigt. Der Esser grabscht nur in eine Tüte und sieht nicht mal mehr hin.
Auch bei “All you can eat” wird dem Essen gar kein Wert mehr zuerkannt, wenn man so viel essen darf, bis sich die Magenwände krampfhaft dehnen. Das schon angesprochene Maß ist unserer kapitalistischen Gesellschaft abhanden gekommen. Von allem ist immer genug da, alles ist jederzeit verfügbar: Informationen im Netz, Waren im Netz, Kontakte im Netz. – “Bestellen Sie jetzt zahlungspflichtig!”
Wer weiß, wie viel Freude und Mühe es macht, mit Liebe und Muße zu kochen, der würde niemals raffgierig seine Teller am Buffet füllen, und dabei in Kauf nehmen, dass seine Augen größer sind als der Magen (ein Satz meines Opas), aber ist ja egal, dann werden die Reste halt weggeschmissen. Unsere Gesellschaft frisst alles, bis sie irgendwann platzt. Und sie frisst nicht nur Essbares. Ich verabscheue Menschen, die in den Urlaub fahren und von vorneherein in Kauf nehmen, dass sie fünf Kilo zunehmen, weil sie sinnlos und maßlos in sich hineinstopfen. Und sich noch darauf freuen!!! Welche Leere füllen sie damit? Mit blauen und gelben Bändchen um den Arm kategorisieren sie sich und werden systematisch abgefüllt. All inclusive. Kotztüten kriegt man sicher beim Einchecken. Kreuzfahrten sind meiner Meinung nach ausschließlich für das große Fressen da. Was soll man denn sonst bitteschön auf solchen blöden Schiffen machen? Nun ja, diese Gedanken huschten mir so durch den Kopf, als ich das Schwärmen der anderen über das – nennen wir das Kind doch mal bei seinem deutschen Namen – “Friss, was Du kannst-Essen” hörte. Ich finde der Euphemismus “All you can eat” klingt viel zu harmlos. Aber das haben Beschönigungen ja so an sich.
Es ging also los. Die sehr höflichen japanischen Kellner kamen und erklärten die Spielregeln. Wenn, dann müsse der ganze Tisch “Buffet” nehmen, wir müssten uns zu Gruppen zusammenfinden, die dann jeweils ein iPad bekäme. Das wussten wir ja schon. Mit diesem Tablet könne man alle Speisen und Getränke bestellen. – Also waren die Kellner bloß darauf reduziert, uns Gefräßigen die Haifischflossen einfach nur hinzustellen? Ich schämte mich. Doch es kam noch schlimmer: Wie beim Boxkampf wurde rundenweise gegessen: alle zehn Minuten durfte eine neue Runde bestellt werden. Eine Countdown-Uhr am Tablet zeigte dem hungrigen User, wie schnell er schlingen musste. Ich war entsetzt. Ich wollte gebratene Bananen, nach Hause gehen, mit knurrendem Magen einschlafen in der Hoffnung, anders zu sein als der Mainstream. Das Reglement fasste aber noch weiter: Fünfzehn Speisen durfte man pro Runde bestellen. Man touchte auf den Button “Hungrig?” und die einzelnen Posten crawlte man herunter oder hinauf. Es gab Suppen, Hauptspeisen, Sushi, Desserts und Spezial. Spezial war im Preis von 19,90 Euro nicht inbegriffen. Ein Ringrichter war glücklicherweise nicht anwesend. Schellen und Rundengirls gab es auch nicht. Nun ging es also los. Jeder von uns Dreien durfte fünf Sachen bestellen. Ich nahm den Algensalat, die Korokke (japanische Krokette mit Gemüsefüllung), gegrilltes Gemüse, Misosuppe und gebratenen Reis. Man touchte die Speisen an, und wenn die Bestellliste komplett war, ging man auf das Feld “Bestellen”. Und drückte drauf. “Und ab dafür”, sagte ein ehemaliger Chef von mir immer.
Kurz nachdem wir alle bestellt hatten, hörte man es in der einsehbaren Küche zischen und brutzeln, und zehn Minuten später kam der Kellner und brachte auf schmalen länglichen weißen Tellern unsere Gerichte. Da kaum einer noch wusste, was er bestellt hatte, wurde einfach alles auf den Tisch gestellt, und wir begannen zu essen. Hhmm. Also ich muss sagen, dass das sehr köstlich war. Als die anderen schon überlegten, was sie als nächstes nehmen wollten, und die Uhr eine verbleibende Zeit von sieben Minuten bis zu einer zweiten möglichen Bestellung anzeigte, setzte in mir schon wieder die Gegenwehr ein. Pah, ich ließ mich doch beim Essen nicht stoppen. Nicht abfüttern, nicht mästen, nicht in ein Bestell-Hamsterrad zwängen. Ich bin doch Mensch und nicht nur Konsument! Wie stehe ich denn da? Wo war meine Individualität? Hhmm, andererseits musste ich zugeben, dass der Algensalat ungewöhnlich war, und meine Geschmacksknospen regelrecht aufblühten. Auch diese Krokette traf ins Schwarze meiner Zungennerven. Runde zwei war zeitlich nun möglich. Ich war neugierig auf weitere Speisen dieser doch überraschend ausgezeichneten Küche. Nein, ich Grantler musste zugeben, dass mir diese Vielfalt gefiel und ich probieren wollte. Die Soßen, die Suppen, das andere! Also Runde zwei bitte schön!
Runde zwei war auch sehr gut. Von Runde eins hatte ich noch meinen Reis, der ja bekanntlich sehr satt macht. Also ließ ich ihn erstmal Reis sein, denn ich wollte ja probieren. Doch die Karte war umfangreich und mein Magen klein und bescheiden. Wir machten also eine Pause, als die Gruppe der jungen Männer auch in Runde drei die fünfzehn erlaubten Speisen per Touchklick (Mäuse sind ja auch schon wieder out) orderten. Sie waren in einen Probierrausch geraten, und ich beneidete sie um die dehnbaren Mägen. Meine Essensauffangstation hatte genug von den Hauptspeisen und wollte mit Runde drei das geliebte Dessert einnehmen. Es klang sehr verführerisch und so schön rätselhaft exotisch, was da so stand: Mochi, das ist Eis mit grünem Teegeschmack, ausserdem Reisbällchen, gegrillte Ananas, süßer Reis mit Kokosmilch und Vanillesauce und eine Frühlingsrolle mit Mangofüllung und Schokoladensauce. Noch Fragen? Noch Zweifel? Noch Vorbehalte? Hhmmm…
Liebe Leser, ich muss Ihnen sagen, dass mir Hauptgänge oft gar nicht so wichtig sind. Ich bin immer froh, wenn endlich das Dessert mit einem leckeren Kaffee an der Reihe ist. Und wie oft muss man sich für nur EIN Dessert entscheiden, um dessen Eiskugel man dann mit dem Löffel respektvolle Bögen fährt, um möglichst lange etwas von diesem Genuss zu haben? Hier standen einem ganz andere Möglichkeiten offen: Als ich das seltsame Teeeis probierte, kam ich auf den Geschmack, obgleich man bei der Hülle der Eiskugeln den Eindruck hatte, ein weiches Umlegpapier im Mund hin und her zu wiegen. Aber gerade diese Exotik war so reizvoll. Wir wollten eine weitere Runde. Runde Vier: Nochmal Mochi und die Frühlingsrolle. “Bestellen” anklicken, fünf Minuten später flogen einem die weichen Teigtaschen fast bis in den Mund. Ich war ganz verdattert. Das hier war ein Schlaraffenland. Essen on demand. Essen, das nie endet. Desserts bis zum Abwinken.
Halten Sie mich für verfressen, wenn ich sage, dass ich mich für Runde fünf präparierte, und eine wahre Freude empfand, mit meinen Fingern über das Tablet zu streicheln, um sogleich wieder Asien auf der Zunge zu spüren? Zum Teufel mit diesen langweiligen und unrealistischen Todsünden! Doch halt, ich war ja mal Messdiener gewesen…. und hatte christliche Werte. Um mich wieder in geregelte Bahnen zu lenken, orderte ich nach dem wiederholten Eisgenuss einen Latte Macchiato. Mit diesem wunderbaren Milchkaffee schloss ich in Restaurants gerne meine Besuche ab. Ich musste hier beim Japaner einfach eine vertraute Zäsur setzen, ein Ritual befolgen, bevor die Finger auf dem Tablet mit mir durchgingen. Es lagen bestimmt noch etliche Mochi-Kugeln in der Truhe der Küche herum? Gott bewahre! Die anderen bestellten noch immer Hauptspeisen, und die ganze Zeit wurden die köstlichsten Dinge gereicht. Ein Italiener in unserer Runde, Fabiolo, hatte bisher noch nicht viel gesprochen, weil er unentwegt aß. Das fiel uns auf einmal allen auf: Vor ihn wurden die meisten Speisen gestellt. Und er futterte und genoss. Als wir ihn fragten, in welcher Runde er sich befände, sagte er: “Sieben”, und jedesmal hatte er fünf Gerichte bestellt. Er erklärte kurzerhand den Grund: “Meine Mutter sagt immer, man müsse alles probieren, ehe man ein Restaurant wirklich beurteilen könne.” Italiener befolgen ja häufig, was Mama sagt, aber diesmal war es für ihn ein leichtes Nachkommen ihres klugen Rates.
Markus mit seinen fünfzehn Jahren, der rechts neben mir saß, hatte sich, nachdem er viel probiert hatte, spezialisiert: er orderte im Minutentakt Ananas. Manchmal drei Portionen auf einmal. Das ging ja. Waren ja immer nur drei Stückchen auf den schlanken Tellern. Fünfzehn Portionen wären rein theoretisch möglich. Gegenüber saßen Yannis und Bastian. Bastian starrte schon seit einigen Minuten fassungslos zu Yannis hinüber, der immer noch aß und auch noch nicht von einem Sättigungsgefühl sprach. “Ich kann nicht mehr”, sagte Bastian und bewunderte seinen Sitznachbarn weiter. Der bestellte sieben Runden und auch den kompletten Nachtisch. Als wir diese köstlichen weichen Reisbällchen mit Sesamkruste zu uns nahmen, fingen wir plötzlich an zu fantasieren. Was, wenn wir hier Runde um Runde bestellen müssten, wir gar nicht anders könnten, tagelang hier säßen und beim nächsten Training, wenn wir unserem Trainer beim Angrüßen in einer Reihe wieder gegenüber ständen, so dick wären, dass wir statt Karate Sumoringen machen müssten? Der Dickste würde sich im Kampf einfach auf den anderen draufsetzen. Kampf gewonnen. In den vielen Pausen, die wir aufgrund unseres Körperumfanges dann machen müssten, würde uns unser Trainer diese leckeren Reisbällchen in den Schlund werfen. Wie kleine hungrige Vögel säßen wir mit offenen Schnäbeln vor ihm und verlangten Nachschub. So ein massiger Körper musste am Laufen gehalten werden! Als gefräßige Sumos würden wir berühmt, auf Herdeckes Ortsschild stände fortan: Stadt der Sumoringer. Wir wären die Maskottchen dieses japanischen Restaurants und statt zehn lächerlichen Runden würden wir auf dreißig erhöhen. Unser Trainer käme uns so hässlich dünn vor, und am Ende würden wir nur noch sitzend trainieren. Der weichen Reisbällchen müde, würde unser Trainer uns nun dieses Teeeis in unsere gierigen Münder werfen, und die Stadt dann endgültig verlassen. Für ihn schien die Völlerei also noch eine Todsünde zu sein. Wie spießig!
“Ich brauche noch eine Spezi”, sagte mein junger Sitznachbar. Das Lokal war inzwischen leer. Es waren fast elf Uhr. Wir waren die einzigen übrig gebliebenen Gäste, und noch immer testete unser Italiener diese Küche gewissenhaft im Auftrag seiner Mutter auf Herz und Nieren. Er verbrauchte dabei gefühlt sechzig dieser schmalen Teller. Als mein Nachbar sein Wunschgetränk antouchte und dann auf “Bestellen” ging, hörten wir beinahe im gleichen Moment, wie die Bardame den Kühlschrank öffnete, die Flasche herausnahm, und mein Sitznachbar nur wenige Sekunden nach dem Ordern sein Getränk hingestellt bekam. Das nenne ich Service. So schnell sind nicht mal Fast Food-Ketten.
Tja, was soll ich sagen. Vorurteile sind dazu da, sie manchmal aus dem Weg zu räumen. Auf dem Kreuzfahrtschiff darf man seine Prinzipien auch ruhig mal über Bord werfen, oder nicht? Ich habe mich an der Essenslust der jungen Männer unseres Dôjôs jedenfalls sehr vergnügt und mich an meinen jüngeren Bruder erinnert, der in dem Alter auch nie satt wurde. Da war doch ein “All you can eat”-Buffet genau das richtige! Und als ich dann auf der Karte auch noch las, dass Verschwendung nicht geschätzt würde, und man nur so viel bestellen sollte, wie man auch essen kann, ausserdem das Restaurant sich vorbehält zuviel bestellte Speisen, also die Reste, extra zu berechnen, da versöhnte ich mich endgültig mit diesem japanischen Restaurant. Und wer weiß, wenn der Lieblingsitaliener von meinem Freund und mir mal zu hat, dann könnten wir doch auch….
Meine lieben Leser, genießen Sie Ihr Essen, egal wie, wann, wo und wieviel. Es grüßt Sie wie immer herzlich
Ihre Andrea Klasen
PS: Und wer Lust bekommen hat, diese leckeren Speisen aus dem fernen Japan mitten in Herdecke auch einmal zu probieren, dem sei die Adresse des Restaurants verraten: http://www.gourmetkhan-herdecke.de